Liebe Gemeinde,wer Pfarrerin oder Pfarrer werden will, muss normalerweise Theologie studieren: 5-7 Jahre lang Hebräisch, Griechisch, Latein, Kirchengeschichte, Dogmatik, Ethik, Praktische Theologie (Seelsorge und Gottesdienste), Altes Testament, Neues Testament … Dann folgen zweieinhalb Jahre praktische Ausbildung, wo man im Vikariat von einem älteren Kollegen oder einer älteren Kollegin begleitet und in die verschiedenen Arbeitsbereiche eingeführt und dazu angeleitet wird.
Erst danach kommt die Ordination, also die Berufung zur Pfarrerin/zum Pfarrer. Bevor man aber ganz fertig ist sind noch einmal einige Jahre Probezeit nötig, wo man sich in der Regel auf einer Pfarrstelle mit überschaubarerer Verantwortung noch einmal ausprobieren und Erfahrungen sammeln kann. Wenn man das alles hinter sich hat, kann man sich als Pfarrerin/Pfarrer auf freie Stellen in der Kirche bewerben.
Macht das Sinn? Braucht es diese lange und vor allem auch theoretische theologische Ausbildung, um eine gute Pfarrerin/ein guter Pfarrer zu sein?
Ja! Denn in der evangelischen Tradition ist die Theologie nicht nur eine theoretische Wissenschaft, sondern ein grundlegender Bestandteil für gelebten Glauben. Sie hilft Glauben zu reflektieren, zu vertiefen und im Alltag verantwortungsvoll umzusetzen. Theologie bedeutet wörtlich „Lehre von Gott“ – sie fragt also nach dem Wesen Gottes, nach seinem Wirken in der Welt und nach dem Sinn menschlichen Lebens aus der Perspektive unseres Glaubens.
Ein zentrales Merkmal des evangelischen Glaubens ist z.B. das Prinzip „sola scriptura“ – also dass allein die Bibel als wesentliche Grundlage gilt und eben nicht Hierarchie, Tradition oder persönliche Meinungen. Die Theologie hat die Aufgabe, die Bibel wissenschaftlich zu erschließen und verständlich auszulegen. So unterstützt sie, biblische Texte nicht nur historisch einzuordnen, sondern auch auf heutige Lebenssituationen zu beziehen. Dadurch wird der Glaube nicht zu einem blinden Vertrauen, sondern zu einer verantworteten Entscheidung. In einer Zeit, in der viele für sich in Anspruch nehmen zu wissen und vor allem laut zu sagen, was christlich ist und was man zu tun oder zu lassen hat, ist das ein wichtiges Werkzeug, sich seine eigene Meinung bilden und danach leben zu können. Wissen und Bildung sind heute wichtiger denn je, um auch in Zukunft weiterhin in Frieden, Freiheit und Wohlstand miteinander leben zu können.
Martin Luther betonte diese „Freiheit eines Christenmenschen“ – und die Theologie trägt wesentlich dazu bei, diese Freiheit im Glauben mit ethischer und diakonischer Verantwortung zu verbinden. Sie stellt kritische Fragen, regt zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen an und fördert ein reflektiertes, mündiges Christsein. Viele Angebote in der Kirche wollen dies unterstützen, egal ob Predigt, Bibelkreis, Bildungsveranstaltungen, Seminare u.v.a.m.
Ein Beispiel aus dem Alltag: In einer Nachbarschaft kommt es zum Streit über Lärm und Ordnung. Eine Frau, die sich mit dem biblischen Gebot der Versöhnung beschäftigt hat, entscheidet sich bewusst gegen eine Strafanzeige zur Rache oder einen depressiven Rückzug, weil man ja eh nichts tun kann. Stattdessen sucht sie das Gespräch, hört zu und findet eine Lösung. Ihr Wissen hilft ihr, Konflikte nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit zur Versöhnung zu begreifen – ganz im Sinne von Jesu Aufforderung: „Selig sind, die Frieden stiften.“
Ein weiteres Beispiel aus der Schule: Ein Schüler erlebt, wie ein Mitschüler ständig ausgegrenzt und verspottet wird. Durch den Religionsunterricht und die Auseinandersetzung mit theologischen Themen wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe und dem Vorbild Jesu entwickelt er ein Bewusstsein dafür, dass jeder Mensch Würde besitzt. Er entscheidet sich, nicht mitzumachen, sondern den Mitschüler in die Klassengemeinschaft einzubeziehen. Sein Glaube wird hier ganz praktisch: Er setzt sich mutig für andere ein, weil er aus der Überzeugung heraus handelt, dass Gott alle Menschen annimmt und liebt.
Und noch ganz aktuell: Der amerikanische Vizepräsident begründete seine Abgrenzungspolitik unter anderem mit dem Gebot der Nächstenliebe, das ja – seiner Meinung nach – bedeutet, man liebt „zuerst seine Familie, dann seine Nachbarn, dann seine Gemeinschaft, dann die Mitbürger im eigenen Land – und erst danach kann man sich um den Rest der Welt kümmern.“ Dieser für ihn logischen, biblisch aber völlig unangemessene (es gibt ja keine richtige!) Reihenfolge christlicher Nächstenliebe hat der neue Papst Leo XIV. dann auch sofort widersprochen: „JD Vance irrt sich. Jesus verlangt von uns nicht, unsere Liebe zu priorisieren.“ Ein Blick in die Bibel, ein wenig Hintergrundwissen und theologische Reflektion genügen, um diesem Missbrauch von Religion für politische Zwecke zu entlarven.
Auch der eigene, persönliche Glaube kann wie politische Haltungen „rechts“, „links“ oder extrem nach beiden Seiten werden und dann dementsprechend agieren. Wissenschaftlich fundierte Bibelauslegung ist hier mindestens ein Korrektiv, das Prinzip „sola scriptura“ das, woran sich aller Glaube messen lassen muss.
Theologie hilft also zum praktischen Glauben, aus dem Vertrauen auf Gottes Gnade zu leben und dieses Vertrauen im Handeln dann sichtbar zu machen – sei es im persönlichen Umfeld, in der Kirche oder in der Gesellschaft. Auch wenn es anstrengend ist: Theologie vermittelt Wissen und gibt dem praktischen Glauben Richtung, Tiefe und Orientierung. Sie hilft, den Glauben im Alltag zu leben – nicht als starres Regelwerk, sondern als lebendige Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen, die Denken und Handeln durchdringt.
In diesem Gemeindebrief wollen wir deshalb gerne einmal einen ersten Einblick in einige theologische grundlegenden Themen geben – zum Lesen, Nach-Denken, Vertiefen und Verbinden mit dem eigenen Leben. Und wenn Sie wollen, gibt es in der nächsten Ausgabe mehr…
Eine gesegnete Sommerzeit wünschen Ihnen Ihr Pfarrer und Ihre Pfarrerin
Dr. M. Weber und Sabine Arzberger